Wittlaer wollte kein Großstadt-Anhängsel werden

 

Dorfkrach um einen Bebauungsplan der dreißiger Jahre

Verkehrsprobleme und Bebauungspläne haben schon vor einem halben Jahrhundert die Wittlaerer Bürger auf den Plan gerufen. Die Erinnerung ist aktuell, beweist sie doch, daß mit einer vernünftigen "Bürgerinitiative" (damals gab es das Modewort noch nicht) Fehlentwicklungen mit Aussicht auf Erfolg entgegengetreten werden kann. Die Wittlaerer liebten ihren stillen, verträumten Ort am Rhein, so wie er war.

Mit Recht liefen sie deshalb zu Beginn des Jahres 1932 Sturm gegen einen Bebauungsplan, der keineswegs den Bedürfnissen der Gemeinde entsprach. Die von der Verwaltung mit hektischer Eile betriebene Offenlegung des Projektes ist ein Musterbeispiel für die Machtkonzentration in Händen der Verwaltungsbürokratie, wie sie dem Bürger das Leben schwer macht. Aber in Wittlaer war es gar nicht so einfach, die Bürger zu überfahren; zunächst rebellierten sie gegen das Projekt.

In Fluß kamen die Auseinandersetzungen um den von dem in Wittlaer wohnenden Duisburger Dipl.-Ing. Karl Hitzbleck (im Adreßbuch von 1931 als "Bauunternehmer" ausgewiesen) aufgestellten Plan, nachdem einige um die Zukunft des Ortes besorgte Bürger den nachstehend wiedergegebenen Brief an den Bürgermeister des Amts Ratingen-Land gerichtet hatten:

 

" Wir nehmen höflichst Bezug auf den Einspruch gegen den für die Gemeinde Wittlaer projektierten Bebauungsplan, der nach Zeitungsnachrichten am 22. ds. Mts. dem Gemeinderat von Wittlaer zur Beschlußfassung vorgelegt werden soll. Wir hatten mittlerweile Gelegenheit, diesen Bebauungsplan einzusehen und sind uns einig darüber, daß dieser Plan in seiner übermäßigen Ausdehnung bei weitem über das notwendige und erträgliche Maß für die Gemeinde Wittlaer hinausgeht... Wir erheben daher gegen diesen Bebauungsplan Einspruch und bitten, denselben dem Gemeinderat nicht am 22. ds. Mts. zur Zustimmung vorzulegen. Unseren Einspruch begründen wir wie folgt:

Erhält der Bebauungsplan Rechtskraft, so ist es mit einer gesunden Weiterentwicklung der Gemeinde Wittlaer, so wie es die Anlieger und die Bürgerschaft im Interesse des Gemeindewohls wünschen, ein für alle Male vorbei. Wir wünschen durchaus nicht, einer werdenden Stadt anzugehören, sondern gerade das ländliche Wesen in Wittlaer ist es, das den Ort für Ausflügler und Sommerfrischler und Erholungsbedürftige weit und breit äußerst beliebt macht, zumal der ruhig dahinfließende Rheinstrom dieses ländliche, friedliche Gebilde noch besonders reizvoll und einzig in seiner Art erscheinen läßt.

Warum soll nun durch einen Bebauungsplan, der viel zu großzügig aufgestellt ist, dieser Ruf von Wittlaer als schönster Flecken am Niederrhein, ohne Industrie und schädliche Einwirkungen von Fabrikschornsteinen vernichtet werden? Der Bebauungsplan mag für Aufschließungsgelände vor den Toren einer Großstadt gelten können, niemals aber für eine so ausgeprägte ländliche Ortschaft wie Wittlaer es ist. Eine Offenlegung nur eines Teils der projektierten vielen Straßen würde die Gemeinde Wittlaer mit einem Schlage in ungeheure Schulden stürzen. Straßenbau, Kanalisation, Beleuchtung, Reinigung und Unterhaltung der Straßen würde die Gemeinde vor vollständig unlösbare Aufgaben stellen.

Wir haben durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß aus Zweckmäßigkeitsgründen von der Landstraße senkrecht zum Heckenweg, der zum Rhein führt, eine Verbindungsstraße am landwirtschaftlichen Betrieb von Karl Brockerhoff vorbei, aufgelegt wird, um einen besseren Weg zum Rhein zu erzielen, aber wir sind uns mit der Bürgerschaft darüber einig, daß die projektierte Parallelstraße in der Verlängerung des bestehenden Privatweges zu den Landhäusern Simons, Askevold und Clarenbach, zwischen Landstraße und Rheinheckenweg überflüssig ist und geeignet erscheint, die bestehende prächtige Naturgrünanlage des Ortes für immer zu zerstören. Der genannte Privatweg, der das Eigentum der benannten Herren Simons (bekannter Düsseldorfer Rechtsanwalt. D. Verf), Askevold und Clarenbach (Prof Max. Clarenbach. D. Verf) durchschneidet, würde, falls er öffentlicher Weg werden sollte, diese Besitzungen entwerten, denn er würde dann die Gärten, die an beiden Seiten des Weges liegen, nicht verbinden, wie er es als Privatweg tut, sondern sie dauernd trennen.

Mag die Stadt Duisburg als Hauptanliegerin für eine Paralellstraße ein großes Interesse haben, dieses Interesse ist aber keinesfalls das Interesse der Allgemeinheit. Es wird zur Rechtfertigung dieses einschneidenden Eingreifens in das Schicksal der Gemeinde Wittlaer gesagt, die Stadt Duisburg habe in Wittlaer 600000,- Mark in Grundstücken investiert, die nun endlich durch Aufschließung von Baugelände realisiert werden müßten. Hiergegen ist folgendes einzuwenden:

Richtig ist, daß die Stadt Duisburg große Ländereien und einen Wirtschaftshof in Wittlaer in den Zeiten der Scheinblüte erworben hat. Dieser Erwerb geschah indessen lediglich für das neuangelegte Wasserwerk, also für eine werbende Anlage, die sich dauernd verzinst. Für dieses Wasserwerk enteignete die Stadt Duisburg überfüssigerweise das schönste Baugelände am Niederrhein, nämlich die "Schanze" an der Grenze von Wittlaer-Bockum, direkt am Rhein hochwasserfrei gelegen. Ausgerechnet an dieser herrlichen Stelle, die ein ideales Baugelände für Villen war, errichtet Duisburg eine Wasserpumpenstation, die mit den benachbarten großen Kies- und Materialbergen der Gegend durchaus nicht zur Zierde gereicht. Überflüssigerweise wurde bei diesen Käufen, wohl mehr aus Spekulationsgründen, auch der "Töllershof" erworben, und dieser Hof mit seinen Ländereien ist es, der jetzt der Stadt Duisburg zum Vorwand dient, um eine, die Gemeinde Wittlaer schädigende Baugelände-Auferlegungspflicht zu betreiben.

Mag Duisburg einen Teil der Ländereien des Töllerhofes parzellieren und als Baugelände für Villen verwerten; solange dies im Rahmen der für die Gemeinde Wittlaer tragbaren Grenze bleibt, soll hiergegen nichts eingewendet werden: Auch gegen einen vernünftigen Bebauungsplan, der den ländlichen Charakter des Ortes wahrt und genügend Grünfächen vorsieht, wird nichts einzuwenden sein. Wenn aber das herrliche, einzigartige Örtchen durch einen verfehlten Bebauungsplan geschädigt werden soll, so rufen wir einmütig und entschieden den Urhebern des Planes zu: "Hände weg von Wittlaer!"

Die Veröffentlichung dieses mit 15 Unterschriften versehenen Schreibens wirbelte natürlich einigen Staub auf. Aus diesem Grund versuchte Amtsbürgermeister Heinrich Hinsen in der Sitzung des Wittlaerer Gemeinderates am 22. Januar 1932 die erregten Gemüter zu beruhigen, indem er sich ausführlich mit den in der Öffentlichkeit kursierenden Vorwürfen gegen die Verwaltung auseinandersetzte. Hinsen erklärte u.a., daß der Bebauungsplan, mit dem sich Finanz- und Baukommission der Gemeindevertretung mehrfach eingehend beschäftigt hätten, entgegen dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck, keineswegs großstädtische Ambitionen verfolge. Die ihm bereits zugegangenen Einsprüche, bei denen es überwiegend um die geplanten Zugänge zum Rhein gehe, seien verfrüht; berechtigte Einwendungen würden zur gegebenen Zeit berücksichtigt werden. Nach der zunächst noch ausstehenden grundsätzlichen Zustimmung des Gemeinderates zur Offenlegung des Planes laufe eine vierwöchige Einspruchsfrist, die von allen Interessierten genutzt werden könnte. Weiter sagte der Bürgermeister, daß der Plan lediglich "die gesunde Entwicklung Wittlaers" sichern solle ohne den Grüngürtel anzutasten; der ländliche Charakter des Ortsbildes sei in keiner Weise gefährdet. Wichtigster Punkt des Planes sei der dringend notwendige Zugang zum Rhein. In Verbindung mit den vorgesehenen Maßnahmen sei allerdings die Auflegung bzw. die Änderung einiger Straßen nötig. Darüber hinaus enthalte der Plan eine wünschenswerte Entlastung der Straßenverhältnisse in der Umgebung der Kirche.

Nach dem Bürgermeister sprach der Schöpfer des von den Eingesessenen mißbilligten Planes. Hitzbleck versicherte, daß er bei der Planung selbstverständlich alle von der Regierung in Düsseldorf verlangten Auflagen berücksichtigt habe. Auch er setzte sich sehr für die Verbindungsstraße vom "Jäger" (damals Gaststätte von Karl Brockerhof vor 1926 Haltestelle der "Düsseldorf-Duisburger Kleinbahn") zum Rhein ein, ebenso für eine im Plan vorgesehene Querverbindung in Nord-Süd-Richtung sowie für eine weitere Straße zum Rhein "auf der Grenze Euler" (an der Nordseite der Schule). Er plädierte - das ist verständlich - warm für die Annahme des Projektes.

Nach Klärung einiger Unstimmigkeiten wurde die Offenlegung des Planes schließlich einstimmig von den Gemeindevertretern beschlossen.

Nach dem Bekanntwerden dieser Entscheidung steigerte sich die Empörung in der Bürgerschaft bis an die Grenze des noch gerade Erlaubten. Am 17. Februar 1932 brachte eine im Wittlaerer Raum viel gelesene Tageszeitung folgende "Darlegung einer Ansicht aus Leserkreisen":

 

"Der schönste zwischen den Großstädten Düsseldorf und Duisburg gelegene Ort ist unstreitig Wittlaer. Schon jahrzehntelang haben sich hierin zurückgezogen alle, die ein lebendiges Verständnis für die Schönheit und Ruhe des Niederrheins gefunden haben. Die Rücksichtslosigkeit und der Eigenwille unserer Zeit prägt sich auch aus in der Anlage der Neubauten an der Rheinfront in Wittlaer. Während die alten Bauten parallel zu den Krümmungen des Rheines und in der Fluchtlinie der bestehenden Häuser entstanden, drängen sich die neu errichteten Häuser möglichst an den Rhein und in die Nähe der Grundstücksgrenzen. Dadurch raubt einer dem anderen die Sicht über das Vorflutgelände des Rheines mit seinen typischen Weidenstümpfen, Pappeln und Wiesen. Da nun die Rheinfront fast ganz bebaut ist der Zuzug von der Stadt in das idyllisch gelegene Wittlaer jedoch anhält, so ist es jetzt die richtige Zeit, daß die Verwaltung mit ihrem Bebauungsplan auftritt. Dadurch will sie erstens den ländlichen Charakter Wittlaers erhalten und zweitens Zugänge zum Rhein schaffen, um dadurch ein vernünftiges Aufschließen des Geländes herbeizuführen. Der vorliegende Bebauungsplan hat wohl all diesem Rechnung getragen. Der gedachte Weg, parallel zum Heckenweg und zur Dorfstraße dürfte jedoch überflüssig sein, da 1. durch den Weg von Brockerhof zum Heckenweg ein bequemer Zugang zum Rhein geschaffen würde, 2. dieser Weg auch in der Anlage zu kostspielig wird, und 3. würde das Haus Werners (früher Bäckerei und Gastwirtschaft. D. Verf), das in seiner jetzigen Lage unbedingt erhalten bleiben muß, durch die Beseitigung der Kegelbahn zuviel an idyllischem Reiz verlieren und evtl. der Aufschließung ganz zum Opferfallen. Wenn der Heckenweg nun auf 3 Meter verbreitert würde, wären wohl alle Wünsche befriedigt. Endlich müßte der Weg, der zwischen dem Grundstück Schmitz und der Kirche führt und im neuen Bebauungsplan verschwinden soll, erhalten bleiben, weil dadurch die kürzeste Verbindung von der Kirche zur Schule gegeben ist und weil auch gerade von diesem Weg aus für jeden Fremden die Aussicht auf die Kirche am schönsten und sehenswertesten ist. "

Ende April 1932 scheint die Verwaltungsbürokratie dann Ernst machen zu wollen. Eine vom Amtsbürgermeister Hinsen und Gemeindevorsteher Johann Weyer unterzeichnete PresseVeröffentlichung vom 23. April 1932 gibt bekannt:

 

"Die im Einverständnis mit dem Gemeinderat und unter Zustimmung der Ortspolizeibehörde aufgestellten Bebauungspläne für den Ortsteil Wittlaer liegen nach Vorschrift des § 7 des Straßen- und Baufluchtlinien-Gesetzes vom 2.7.1875 in der Zeit vom 14. Mai bis 14. Juni ds. Jahres beim Gemeindevorsteher zu jedermanns Einsicht offen.

Einwendungen gegen die Pläne sind innerhalb der vorbezeichneten Frist beim Gemeindevorsteher schriftlich oder mündlich anzubringen. "

In einer Bürgerversammlung, die der seit vielen Jahren in Wittlaer ansässige Architekt Askevold einberufen hatte, wurde der Plan noch einmal eingehend analysiert. Einstimmig verlangten die Versammelten, daß der ländliche Charakter Wittlaers unter allen Umständen gewahrt bleiben müsse.

Der Gemeindeverwaltung machte man den Vorwurf, daß sie offensichtlich allzu stark die Interessen der Stadt Duisburg vertrete. (Zwei Wasserwerke der Stadt Duisburg liegen auf dem Gebiet der Gemeinde Wittlaer.)

Eine zweite, noch stärker besuchte Bürgerversammlung, zu der ebenfalls Askevold gebeten hatte, fand am 9. Juni 1932 im Lokal "Brands Jupp" statt. Neben den Alteingesessenen sah man die fast vollzählig erschienenen Mitglieder des Gemeinderates, Vertreter der Amtsverwaltung sowie viele prominente Persönlichkeiten, die sich im Wittlaerer Raum angesiedelt haben, unter ihnen Professor Max Clarenbach und der bekannte Porträtmaler Franz-Josef Klemm. Ernsthafte Bedenken gegen die überspannte Planung wurden auch von dem Düsseldorfer Kunsthistoriker Professor Klapheck und dem in Wittlaer-Bockum wohnenden Kulturhistoriker Werner Witthaus vorgebracht.

Herbert Eulenberg, der an dem Abend nicht erscheinen konnte, hatte den Wittlaerern folgendes Schreiben zugehen lassen:

 

"Es wäre eine Schmach und Schande, wenn man nun auch die Schönheiten von Wittlaer zerstören würde und das hübsche Dörfchen, "das rheinische Worpswede'; zu einem häßlichen, roh aufgeteilten Großstadtanhängsel machen wollte. Der reizende Heckenweg, die ansteigende malerische Straße, die zur Kirche führt, sie müssen unbedingt erhalten bleiben. Alle dort liegenden Häuser haben doch ebenso wie die Wirtschaft von Brands Jupp ihre Anfahrt. Wozu soll da noch eine breite neue Fahrstraße dienen? Sie würde nur den Zweck haben, wieder ein Stück anmutiger niederrheinischer Landschaft bei Düsseldorf zu verschandeln.

Ein im Dienst der Stadt Duisburg stehender Gemeindevertreter warf den Gegnern des Planes Eigeninteressen vor, er empfahl den Wünschen der Stadt Duisburg entgegenzukommen. Man machte also gar kein Hehl mehr daraus, daß die Stadt Duisburg hier ihre "Eigeninteressen" realisieren wollte.

Der ebenfalls in Bockum ansässige Duisburger Architekt Peter Heimbach, ein kluger und besonnener Mann, lehnte ebenfalls den Plan nach eingehender Begründung ab. Großen Beifall erhielt der 84 Jahre alte angesehene Bockumer Landwirt Christian Altgassen, als er ausführte, es sei doch unverantwortlich von der Verwaltung, in einer ausgesprochenen Notzeit ein so überspanntes und kostspieliges Objekt zu präsentieren; ein warnendes Beispiel seien doch die Großstädte, die vor Schulden nicht mehr ein und aus wüßten.

Eine weit über die Grenzen Wittlaers hinaus Aufsehen erregende kritische Stellungnahme zu dem Bebauungsplan von dem schon genannten Kulturhistoriker Wernher Witthaus brachten die "Düsseldorfer Nachrichten" Ende Juni 1932; Witthaus schreibt:

 

"In Wittlaer liegt ein Bebauungsplan offen. Allerlei Interessen stehen auf dem Spiel. An Einsprüchen wird es nicht fehlen. Es ist außerdem kaum anzunehmen, daß die Aufsichtsbehörden die Pläne der Bürgermeisterei Ratingen-Land gutheißen werden. Die Gemeinde Wittlaer-Bockum, das sei gleich erwähnt, lehnt den Bebauungsplan ab.

Aber man muß mit der Hartnäckigkeit solcher Pläne rechnen. Eines Tages kann Wittlaer zur Kapitulation gezwungen werden, wenn man nicht allen Anschlägen vorbeugt. Der Ratinger Bebauungsplan würde das schöne niederrheinische Dorf zerstören. Der Reiz ging zum Teufel, und die Gemeinde wäre bankrott.

Im Januar haben die Gemeindevertreter sich damit einverstanden erklärt, daß der Bebauungsplan offengelegt werde. Mehr als die Offenlegung, die den Interessenten Gelegenheit zum Einspruch geben könnte, haben sie wirklich nicht zugestehen wollen. Aber die Bürgermeisterei wußte genau, daß dieses Zugeständnis praktisch schon alles war, was die Gemeinde überhaupt zur Förderung des Plans tun durfte. So steht denn unter dem Plan: Genehmigt in der Sitzung des Gemeinderats vom 22. Januar 1932. Der Plan trägt auch den Vermerk, daß er im Februar 1932 angefertigt worden sei. Demnach hätte sich die Gemeindevertretung im Januar für eine Idee eingesetzt, die noch gar nicht geboren war. In Wittlaer behauptet man also nicht ohne Grund, es müßten wohl zwei Pläne bestehen; der erste sei "genehmigt" worden und der zweite liege nun offen.

Der Plan sieht Straßen von 10,5 bis 14 Meter Breite vor, und zwar für das kleine Wittlaer gleich 3 000 laufende Meter. Die Straßen sollen zum Teil auch noch seitlich je 4 Meter tiefe "Grünanlagen " haben. In der Nähe der Schule würde sich das Paradies zu einem großen Platz ausweiten. Über 20 Morgen kämen auf diese Weise mehr oder weniger unter die Räder. Denn die Straßenverbreiterungen und Neuanlagen bedeuteten den Triumph des Autos, das sich künftig in dem abgelegenen Ort Wittlaer austoben könnte, obwohl dieses Wittlaer in seinem Kern gar keinen Durchgangsverkehr hat. Am Rhein, bei Brands Jupp, ist ein Parkplatz vorgesehen.

Der wunderschöne Aufgang zur Kirche soll, nebenbei gesagt, auch verbreitert, also verdorben werden. Der Heckenweg würde breiter, damit, wie es heißt, die Prozession, die seit fünfhundert Jahren ihren Weg fand, endlich freie Bahn hat. Der Hecken weg, den jeder Düsseldorfer kennt! Der Wegführt an der Böschung entlang von der Landstraße zur Wirtschaft Brand. Links ist die Niederung mit dem grünen Gras, den Weidenbäumen und dem Bach, und rechts der kleine Hang mit den Landhäusern oben. Ungefähr senkrecht auf diesen Heckenweg möchte das Amt Ratingen eine Prunkstraße führen, damit, wenn einmal ein Auto der unnützen Einladung folgen sollte, dieses Gefährt am schmalen Heckenweg ratlos wenden und andere Sackgassen und Rennbahnen aufspüren könnte, bis es endlich auf dem Parkplatz am Rhein ausschnauben dürfte. Wir brauchen nur dieses Teilstück des Bebauungsplanes anzudeuten. Das Projekt ist in anderen Abschnitten nicht weniger erbaulich.

Es gab einmal -das ist kein Märchen- einen Landrat, der Ratingen durch einen Kanal mit dem Rhein verbinden wollte, damit die alte bergische Hauptstadt den Puls der Welt zu fühlen bekäme. Der Kanal hätte wohl hier bei Wittlaer münden müssen, nördlich von der Stelle, wo das tapfere Kaiserswerth trotz Herbert Eulenberg einen Kran errichtete zur Anziehung des Fluß- und Seeverkehrs. Der Kran ist als allzu romantische Einbildung einer stürmischen Zeit wieder verschwunden; der Kanal wurde gar nicht gebaut. Doch wer darf heutzutage daran zweifeln, daß sich ähnlich kühne Träume in dieser Gegend verwirklichen, sobald Geld vorhanden wäre. Wäre noch etwas Geld vorhanden, dann hätten wir zum Beispiel bald die Autostraße Schnellenburg-Kaiserswerth. Der Fußgänger, der jetzt in aufreizender Begeisterung den stillen Leinpfad wandelt und dem Rhein mit den Schiffen und Segeln so nahe ist, nahe auch dem gesegneten niederrheinischen Land, der Fußgänger muß doch an das Auto gewöhnt werden, an Tempo und Leerlauf. Ja, es ist eine verrückte Gegend hier am Ufer des unvergleichlichen Stroms. Düsseldorfs neue Stadtgrenze hätte fast nach Brands Jupp geschnappt. Es fehlen nur wenige Meter. Und stromab das letzte Haus von Bockum gehört schon zu Duisburg. Hinter dieser vorgeschobenen Festung folgt lange Zeit ein grüner Damm, ehe der nächste Duisburger "Ortsteil", Serm, auftaucht. An die 2 Kilometer Rheinfront hat sich also der Landkreis hier erhalten. Das wäre der Flottenstützpunkt des Landkreises Düsseldorf, hat ein Oberbürgermeister, nicht der Düsseldorfer, einmal witzig gesagt.

Eine der überzeugendsten Errungenschaften der modernen Städtebaukunst ist die Gartenstadt. Unter gewaltigen Opfern wird hier und da, selbst wo die Voraussetzungen ungünstig sind, die Gartenstadt erstrebt. Seit Jahren wird geschrieben und geredet: Baut Umgehungsstraßen! Führt an die Siedlungen Zugangsstraßen heran, aber deckt sie durch Hecken und Baumspalier, damit die Siedlungen ganz in sich abgeschlossen sind, und leitet nur gärtnerische Wege durch die Gartensiedlung. Diese Wege sind auch nicht teuer. Kein Staub, keinen Lärm, kein unnützes Tempo! Ruhe, Friede, Gesundheit! Wittlaer böte dieses Ideal vollkommen zu verwirklichen, eine fast einzigartige Gelegenheit! Indes sie wird vertan!

Niemand in Wittlaer hat etwas dagegen, daß neue Verbindungswege gebahnt werden, so zum Heckenweg und von der Bockumer Landstraße zum Rhein. Aber das brauchte kaum etwas zu kosten. Duisburg andererseits könnte vorbildliche Siedlungsmöglichkeiten bieten, ohne die Gemeinde in den Bankrott zu jagen. Wir wissen, daß im Duisburger Hochbauamt Kräfte sind, die eine mustergültige Planung (als Angelegenheit der Stadt Duisburg) aufzustellen vermöchten.

Wir haben die Siedlungsfrage in den Vordergrund gerückt, damit man uns nicht in den Verdacht bringe, daß wir "schöngeistig" befangen wären. Aber nun darf wohl auch das Bedenken des Denkmalpflegers zur Geltung kommen, der sich zur Natur und zur Form, zum Vermächtnis demütig aufbauender Hände bekennt. Was ist am Niederrhein schon gesündigt worden! Die Bäume gegenüber von Kaiserswerth sind wegrasiert. Flach wie ein Bügelbrett ist dort das Ufer. 1000 Meter zu Tal, gegenüber von Wittlaer und Bockum, ist die niederrheinische Uferlandschaft gottlob noch erhalten. Und drüben von Nierst aus gesehen, nehmen sich Bockum im Baumgrün und Wittlaer mit der romantischen Kirche und der Bruchlandschaft sehr anmutig aus, Links und rechts vom Strom die beiden Turmmasten mit der Überlandleitung sind auch gleichsam eingewurzelt. Zu Tal in der Ferne - wieder einmal, windet sich der Rhein, daß er einem See gleich ist - sind die Schattenrisse der Industrie: Verdingen, Hohenbudberg usw. Gibt es einen grandioseren Gegensatz, ein Land wo das Geschöpf, die Arbeit, kühne Gedanken und der Himmel inniger beieinander wohnen?

Die Schlepper und Kähne, die Segel, die Fischreiher, die Kühe, die hellen Boote der Köln-Düsseldorfer und der Niederländischen, die Seedampfer, die, als hätten sie ein Ziel in unheimlicher Weite, in festem Kurs vorüberziehen -das ist so unermeßlich viel! Und da sprengt in diese feierliche Größe ein "Bebauungsplan': Sie sollten im Amt Ratingen Land Sorge tragen, daß nichts verschandelt wird in diesem Umkreis. Dieses Stück Niederrhein, der Ortskern Wittlaer mit dem Heckenweg und der Uferlandschaft ist längst der ideelle Besitz unzähliger Heimatfreunde. Er gehört, damit er vor der Vergewaltigung behütet wird, endgültig unter "Denkmalschutz."

Ende Juni 1932. Noch immer steht der Bebauungsplan im Mittelpunkt des kommunalpolitischen Interesses. Es gab damals kaum einen Wittlaerer, der nicht mit Entrüstung das Vorhaben der Verwaltung zurückwies, eine der landschaftlich schönsten Wegstrecken im Wittlaerer Raum, den sogenannten Heckenweg (heute: Max-Clarenbach-Weg), der von der Arnheimer Straße (jetzt: B 8) zur Gaststätte "Brands Jupp" führt, erheblich zu verbreitern und ihm damit seine einmalige Intimität zu nehmen. Entlang der Schule sollte ebenfalls ein neuer, breiter Straßenzug angelegt und der Leichenweg von der Schule bis zur Bockumer Ortsgrenze zu einer allen neuzeitlichen Anforderungen entsprechenden Straße ausgebaut werden.

Empört ist man auch über das Vorhaben der Verwaltung, den idyllischen Weg ("et Jässke"), der von der Kirche an der Gastwirtschaft Werners vorbeiführt, zu einer Straße umzugestalten. Einen "großzügigen Ausbau" verlangten die Verkehrsstrategen des Gemeinderates für das Straßenstück, das von dem heute nicht mehr existierenden Spritzenhaus aus zum Restaurant "Brands Jupp" führt; dabei war vorgesehen, die Mauer vor der Kirche, gegenüber der Gaststätte Schmitz, einige Meter zurückzusetzen.

Am 22. August 1932, nachmittags um 5 Uhr, tagte der Gemeinderat in der Gaststätte Kalversberg (vorher Hermann Becker, davor Franz bzw. Peter Jägers) zu Bockum. Unter den 6 Punkten der Tagesordnung ist der Bebauungsplan nicht erwähnt. Punkt 1 der Tagesordnung "Neuwahl des Gemeindevorstehers" brachte übrigens eine von der Mehrheit des Gemeinderats mit Heiterkeit aufgenommene Überraschung, als der Landwirt Rudolf Kreutzer selbst den Antrag stellte, ihn zum Gemeindevorsteher zu wählen und als er seine Wahl als die einzig richtige Möglichkeit bezeichnete. Kreutzer der schon mehrmals seine Parteizugehörigkeit gewechselt hatte (das soll damals selbst späteren Oberstadtdirektoren passiert sein), war 3 Tage vor dieser Sitzung der NSDAP beigetreten. In der geheimen Wahl erhielt er 5 von 18 abgegebenen Stimmen, worauf er sofort schärfste Opposition ankündigte.

Daß der umstrittene Bebauungsplan in dieser Sitzung nicht behandelt wurde, war sicher kein Zufall. Am Horizont zeigten sich bereits die Vorboten des kommenden Nazistaatsstreichs; die Trommeln der braunen Halbstarken dröhnten lauter und lauter. Für die Eroberung der Macht durch den böhmischen Strolch aus Braunau waren die besten Voraussetzungen gegeben. Das finanzielle Trümmerfeld der Städte und Gemeinden hatte vorher nie dagewesene Ausmaße angenommen.

Den Städten Duisburg, Essen, Mülheim-Ruhr, Oberhausen und Wuppertal drohte die Staatsaufsicht durch Einsetzung eines Staatskommissars. Die allgemeine Not nahm heute kaum noch vorstellbare Formen an; so wurden z.B. Ende Juli 1932 in Wittlaer allein in einer Nacht acht Zentner Kartoffeln von den Feldern gestohlen. Am 1. Oktober 1932 gab es in der Rheinprovinz über 741000 Arbeitslose.

Ein Mitte Oktober 1932 veröffentlichter "Aufruf der Notgemeinschaft des Landkreises Düsseldorf-Mettmann" ist u.a. von Amtsbürgermeister Hinsen unterschrieben. Die Verwaltung des Amtes Ratingen-Land konnte "wegen der starken Belastung des Etats" nicht einmal den Gemeinden den sonst üblichen, relativ geringen Zuschuß zur Durchführung der Martinszüge geben. Es war also kaum der richtige Zeitpunkt, um den utopischen Bebauungsplan zu realisieren.

Am 6. November 1932 wurden Kommunalwahlen durchgeführt. Von den in Wittlaer 1510 Stimmberechtigten wählten 1298 und zwar 573 Zentrum, 303 NSDAP, 139 KPD, 110 Deutschnational, 61 SPD und 12 Deutsche Volkspartei. Das ergab für Wittlaer 18 Gemeindevertreter, zu denen noch der Gemeindevorsteher kam. Für den Ausgang der Kommunalwahlen waren seinerzeit nicht immer die politischen Verhältnisse von Bedeutung, sondern oftmals die örtlichen Sonderinteressen.

In der Sitzung des Gemeinderats, die am 12. Januar 1933 in der Gaststätte Schmitz in Wittlaer stattfand, sprach man über die Bürgersteuer, die Einrichtung einer öffentlichen Fernsprechstelle, die Gewährung einer Beihilfe für das kath. Jugendheim, den Ausbau eines Fußgängerweges entlang der Provizialstraße, das Rohrnetz des Wasserwerks, die Hundesteuerordnung und vieles andere; man sprach jedoch mit keinem Wort über das Lieblingskind der Verwaltung, den kostspieligen Bebauungsplan.

Vielleicht hoffte man im Stillen, daß seine Verwirklichung nach der "Machtübernahme" -die damals nur noch eine Frage der Zeit war- und von deren Auswirkungen nur wenige eine Vorstellung hatten - wesentlich einfacher durchzuführen sei. Jedenfalls wurde der Plan, der lange Zeit die Gemüter bewegte, zunächst "auf Eis gelegt' und da liegt er noch heute.

 

Jakob Kau