Der zweite Weltkrieg in Wittlaer

 

Zwei Wittlaerer Mitbürger erinnern sich

Am 29. März 1945 erließ der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Florian einen Räumungsbefehl: aus militärischen Gründen sollten 18 Städte und Gemeinden "total geräumt" werden - darunter auch Wittlaer. Auch hier war der Rhein inzwischen zur Hauptkampflinie geworden. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite fuhren amerikanische Panzer auf. Feindliche Artillerie bestrich den Ort. Tiefflieger beschossen Tag und Nacht Straßen und Wege.

In den Feuerpausen hasteten die Wittlaerer, die sich dem Räumungsbefehl widersetzt hatten, zu den Läden, zur Verteilungsstelle für Lebensmittelkarten oder zu den Brunnen, um Wasser zu holen, denn das Wasserwerk war in den letzten Kriegstagen ausgefallen. Das Melken der Kühe auf der Weide erfolgte unter Lebensgefahr.

 

 

In den Feuerpausen

Margarete Bünten - heute Frau Hundgeburt - hatte sich geweigert, Wittlaer zu verlassen. Im elterlichen Laden an der Bockumer Straße von früh bis spät in Tätigkeit, wollte sie die verbliebenen Kunden nicht im Stich lassen.

Sie erinnert sich:

In unserem Laden schliefen Soldaten auf Stroh. In den Gärten waren Granatwerfer verteilt. Soldaten saßen in Einmannlöchern in der Rheinböschung. Am Froschenteich und am Rhein postierte Flak schoß auf alliierte Flugzeuge, die Duisburg oder Düsseldorf angriffen. Wittlaer bekam dann immer seinen Teil an Bomben ab.

Die Kriegstoten wurden, in Decken gehüllt, in den Gärten begraben, denn eine reguläre Beerdigung war unmöglich.

Nachts kamen aus Düsseldorf, von Münstermann und Maaßen, noch Eier, Käse und Fisch. In den Feuerpausen wurde Milch bei den Bauern geholt. Die letzten Lebensmittelmarken holten wir bei Brand's Jupp ab - neben mir fiel einmal ein Wittlaerer zu Boden, von einem Granatsplitter schwer verwundet. Die Tiefflieger machten auf jeden Jagd, der sich blicken ließ. Mit dem Fahrrad flüchtete ich von Baum zu Baum. Wurde geschossen, flüchtete man in die Gräben.

Die aus den Großstädten an das Wittlaerer Rheinufer verlegten Schiffe mußten von uns mitversorgt werden. Das machte noch mehr Arbeit beim Aufkleben der Lebensmittelmarken. In unserem Keller trafen sich alle, ein Schiffer hatte ein Radiogerät mit Batteriebetrieb, da wurden die letzten Nachrichten gehört.

Als das Wasserwerk ausgesetzt hatte, holten wir Wasser vom nächsten Brunnen. Wir sammelten fleißig Regenwasser. Der elektrische Strom war auch ausgefallen.

Über die -dann in die Luft gesprengte- Uerdinger Rheinbrücke kamen Hunderte von Gefangenen nach Wittlaer, Polen, Russen, Franzosen und Holländer. Sie lagerten in Scheunen. Ihre Ernährung war schwierig. Später wurden sie nach Ratingen abtransportiert, aber als der Krieg zu Ende war, kamen einige zurück und überfielen die Bauernhöfe. Ein Bauer wurde totgeschlagen.

Die ersten Amerikaner rückten von Serm her an. Mit Megaphonen forderten sie Wittlaer zur Übergabe auf. Wir sollten weiße Fahnen hissen. Aber später drohte die SS, es würden alle erschossen, die sich ergäben.

 

 

Auf dem Wittlaerer Hof

Otto Wilhelm Blank kam, in Rußland verwundet, in den letzten Kriegswochen zu seiner Tante auf den Wittlaerer Hof. Er erinnert sich:

Direkt neben unserem Hof war eine Flakstellung. Da wurde es dann manchmal ungemütlich, weil die Stellung natürlich beschossen wurde.

Die Hauptkampflinie verlief am Rhein, dreifach gestaffelt: erst der Fluß, dann die Schiffe mit Öl, Kohlen und Getreide und schließlich die Uferböschung mit einem Minenstreifen. Als jemand einen Ofen von einem Schiff holen wollte, trat er auf eine Mine und flog in die Luft.

Meine Tante war etwas schwerhörig, sie ging, auch als Maschinengewehre zum einen Fenster hinein- und zum anderen hinausschossen, seelenruhig durch die Zimmer und meinte nur ärgerlich: die machen mir noch das ganz Haus kaputt!

Auf der anderen Rheinseite sah man amerikanische Soldaten mit ihren Geschützen. Sie hielten offenbar den heiligen Thomas in der mittleren Blendnische der Kirche, in die er in der Hitler-Zeit als "entartete Kunst" eingemauert werden mußte, aus der er aber noch mit seinem Kopf durch ein Glasfenster guckte, für einen deutschen Soldaten und schossen auf ihn. So wurde die ganze Kirche in Mitleidenschaft gezogen.

Drei Landser, die zum Kaplan Rosenkranz wollten, verloren durch feindliche Granaten ihr Leben.

Als Erinnerungsstück sieht man noch heute beim Hof einen Laufgraben, wie er damals von den Soldaten, in den Feuerpausen aber auch von den Wittlaerern, zum Schutz oder zur Fortbewegung benutzt wurde.

Johannes Schmitz backte unverdrossen sehr gutes Brot.

Hier und da fuhr auch einmal, von der anderen Rheinseite sofort unter Beschuß genommen, ein deutscher Panzer auf.

Sobald auf dem Hof eine Granate einschlug und Staub aufwirbelte, rannten drei Gänse zu dem Loch, um Würmer zu ergattern. Die Amerikaner schossen dann gleich auf die weißen Flecken, so daß wir unsere liebe Mühe und Not hatten, das aufgeregte Federvieh aus dem Schußfeld zu bringen.

 

 

Erinnerungen an die Jahre 1939 bis 1945

Mit Kriegsbeginn im September 1939 trat auch in Wittlaer die lange vorher geplante Rationierung von Lebensmitteln, Textilien und anderen Waren in Kraft. Im Jahre 1940 kamen die ersten polnischen und später auch französische Kriegsgefangene als Arbeiter in den Wittlaerer Raum - sie waren geschätzt und haben sich, wie ein zeitgenössischer Chronist berichtet, "glänzend bewährt". Im Jahre 1941 zog ein starkes Kontingent deutscher Soldaten ein. Zu der Zeit wurde das Leben zunehmend erschwert durch Einflüge feindlicher Flieger.

Auf Anordnung durfte vor zehn Uhr morgens kein Gottesdienst stattfinden, wenn Feindeinflüge nach 24 Uhr vorgekommen waren. Dennoch wurden in Wittlaer, bei verschlossenen Kirchentüren, die Gottesdienste wie gewohnt abgehalten.

Vom 3. Februar 1942 an war der Rhein bei Wittlaer zugefroren; am 5. Februar 1942 gingen die ersten Wittlaerer über den zugefrorenen Rhein nach Nierst.

Ende 1942 wurde bekannt, daß die nachgenannten Wittlaerer in Rußland gefallen waren: Ludwig Büsgen, Josef Korfmacher, Wilhelm Sonnen und Hans Zeyen.

Am 2. Oktober 1942 kamen im Ortsteil Bockum durch Bomben zu Tode: Wilhelmine Leuchten geb. Hußmann, Maria Kösters und Heinz Clasen. Als weitere Gefallene im Jahre 1942 werden genannt: Hans Mirsch und Heinz Schneider.

Am 1. Februar 1943 mußte die Wittlaerer Pfarrkirche die schwersten Glocken (1850 kg und 1600 kg) abgeben.

Gefallene aus dem Jahre 1943: Anton Jansen, Karl Heinz Wichelmann, Peter Arzt, Christian Peters, Walter Peters, Ernst Thiel, Josef Kau. Vermißt wurden 1943 Hans Schmitz, Hubert Möltgen, Walter Kreckel. Ende 1943 waren 108 Wittlaerer zur Wehrmacht einberufen.

Im Jahre 1943 wurden als gefallen gemeldet: Willi Zensen, Wilhelm Königshausen und Leo Noble. Als vermißt: Switbert Büsgen, Paul Nilgers, Hermann Weimbs. In Bockum wurden Anfang 1944 durch Bomben zwei Häuser völlig vernichtet, vier Häuser stark beschädigt und von vielen Häusern die Dächer abgedeckt.

Außer den Vorgenannten starben durch Kriegseinwirkungen (an der Front, durch Bomben oder Beschuß in der Heimat): Franz Baransky, Hermann Sauer, Karoline Bönten, Hermann Franken, Karl Götz, Gertrud Münch, Hubert Möres, Karl Heinz Bläser, Hermann Gries, Sofie von Itter, Gerhard Leissen, Sibilla Küster, Willi Kremer und Franziska Frangen.

Die NSDAP nutzte die Kriegsverhältnisse, um ihren Kampf gegen die Kirche fortzusetzen. Opfer dieses Kampfes wurde am 29. Juni 1944 der in Wittlaer noch unvergessene, künstlerisch sehr interessierte Pastor Franz Vaahsen. Er wurde von der Geheimen Staatspolizei um 11.30 Uhr verhaftet und in das Düsseldorfer Gefängnis eingeliefert wegen einer Äußerung über den Ausgang des Krieges. Nach drei Monaten wurde er sterbenskrank aus dem Gefängnis entlassen. Er starb am 2. Oktober 1944 im Marienkrankenhaus zu Kaiserswerth.

Anfang 1945 lagen die Ortsteile Wittlaer und Bockum sieben Wochen lang unter Artilleriebeschuß. Die uralte Pfarrkirche wurde schwer beschädigt und der Kirchturm zu zwei Drittel zerstört. Der Beschuß vom linken Rheinufer erreichte seinen Höhepunkt in den Monaten März und April 1945.

Nach dem Zusammenbruch im Mai 1945 erschienen als erste Besatzer in unserem Raum Amerikaner, denen später Engländer folgten.

(Nach Aufzeichnungen von Jakob Kau)

 

 

 

Ein Tagebuch der letzten Kriegstage

Margarete Glücks. geborene Brockerhoff, hat vom 1. März 1945 an auf dem Wittlaerer Hof ein Tagebuch der letzten Kriegstage geschrieben, aus dem hier einige Absätze veröffentlicht werden.

Donnerstag, 01. März 1945:

Ein unruhiger Tag, viele hundert Schanzarbeiter kommen von der anderen Rheinseite zurück.

Freitag, 02. März 1945:

Den ganzen Tag rege Tiefiegertätigkeit. An der Siedlung vier Personen von Tieffliegerbomben tot geblieben. Am Abend neue Einquartierung.

Samstag, 03. März 1945:

Schlachttag, ein Soldat half. In Nierst werden weiße Flaggen gehißt. Soldaten fahren hinüber, um sie zu entfernen. Nehmen Männer und Frauen gefangen. Um 4 Uhr dann die ersten Granateinschläge am anderen Rheinufer, wobei sechs Soldaten tot bleiben. Abends 9.30 Uhr die Rheinbrücke in Uerdingen gesprengt. Keiner wagte oben im Haus zu schlafen.

Sonntag, 04. März 1945:

Wir schlafen im Keller. Kein Licht mehr.

Montag, 05. März 1945:

Zwischen 4 und 5 Uhr schlagen die ersten Granaten ein, an der Kirche. Sämtliche Fenster zur Kirche hin zersplittert. Bei Peters Jupp mehrere Granaten eingeschlagen. Frau Peters am Bein verletzt. Johann, der Pole, schwer verletzt. Das Pferd notgeschlachtet. Josef brachte mit Arnold Hilgers den Bäckerlehrling Willi, der von einer Granate verletzt wurde, mit dem Handwagen abends um 10 Uhr zum Krankenhaus.

Dienstag, 06. März 1945:

Die Straße von Wittlaer nach Bockum liegt dauernd unter Beschuß.

Mittwoch, 07. März 1945:

Unser Jährlingsfohlen bei von Itters durch Granatsplitter so schwer verletzt, daß es geschlachtet werden mußte. Johann, der Pole, gestorben.

Donnerstag, 08. März 1945:

Am Morgen schlägt eine Rauchgranate im Kamin ein. Das Kochen in der Küche ist unmöglich. Kurz darauf eine zweite Rauchgranate im Pferdestall. Mit Gasmaske und nassen Tüchern konnten die Pferde herausgeholt werden. Die letzte Messe in der Kirche.

Samstag, 17. März 1945:

Das Wasserwerk getroffen am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr. Kein Wasser mehr.

Sonntag, 18. März 1945:

Ein schöner Frühlingstag. Herr von Itter hat uns am Morgen besucht und mit einem Blumenstrauß Mutter zum Namenstag gratuliert. Zwischen 1 und 2 Uhr wurde der Kirchturm wieder beschossen.

Montag, 19. März 1945:

Bei von Itter ein Faß Wasser am Bach geholt.

Dienstag, 20. März 1945:

Zwangsräumungsbefehl -es trifft uns alle wie ein harter Schlag. Aber wir bleiben. Herr Kaplan holt das Allerheiligste aus der Kirche.

Mittwoch, 21. März 1945:

Am Morgen wieder starker Panzerbeschuß auf den Kirchturm.

Donnerstag, 22. März 1945:

Ein Soldat kommt mit einem Formular, ob wir gewillt sind zu räumen oder ob wir uns weigern. Wir weigern uns und geben an, daß wir mit 15 Personen unseren Keller bewohnen.

Samstag, 24. März 1945:

Gegen Abend eine Granate auf dem Kuhstall. Zwei Kühe verletzt, eine schwer, zwei leichter.

Sonntag, 25. März 1945:

Ein schöner Morgen. Um 4 Uhr mehrere Granaten auf unseren Hof. Liese kommt mit ihrem Fohlen aus dem Stall, verblutet sich und fällt an der Scheune um. Die schwer verletzte Kuh abgeschlachtet.

Montag, 26. März 1945:

Umhalb zehn eine Granate in Mutters Schlafzimmer eingeschlagen. Hinter der Scheune Löcher gegraben, um das Pferdefleisch zu vergraben.

Freitag, 30. März 1945:

Man spricht davon als wenn wir in einem großen Kessel sitzen.

Ostern, 01. April 1945:

Wir beten die Ostermesse im Keller und singen die Auferstehungslieder. Der armen Frau Pfaffendorf die letzten drei großen Kaninchen hier vom Hof gestohlen.

Mittwoch, 04. April 1945:

Soldaten durchsuchen am Morgen unseren Hof, ob vielleicht amerikanische Soldaten sich hier aufhalten, finden im ganzen Dorf nichts.

Donnerstag, 05. April 1945:

Um halb fünf hören wir von der anderen Rheinseite Panzer rollen. Kurz darauf Panzerbeschuß auf unsere Kirche und der Turm fällt. Deutlich hören wir den Panzer wieder wegrollen.

Freitag, 06. April 1945:

Die ganze Nacht Beschuß. Am Abend schoß erstmalig eine schwere Batterie jenseits des Rheines weit über uns hinweg in Richtung Ratingen.

Samstag, 07. April 1945:

Ein herrlicher Morgen, auch so still und ruhig, ohne Beschuß. Im Garten Kartoffeln gepflanzt. Ein Leutnant und zehn Soldaten ziehen am abend mit 20 Stück Rindvieh nach Wülfrath.

Sonntag, 08. April 1945:

Bei Schmitz, um das Neueste zu hören. Auf einmal schlägt eine Granate im Dach ein, im Keller eine Ruß- und Qualmwolke, alle schwarz wie die Neger.

Montag, 09. April 1945:

Dem Fohlen den großen Splitter aus dem Kopf gemacht.

Dienstag, 10. April 1945:

Im Garten Kartoffel, Zwiebel, Möhren, Spinat, Salat und Radieschen gesät. Gegen Abend noch einmal Beschuß auf unser Dorf. Bei Schmitz in der Backstube eine Granate eingeschlagen.

Donnerstag, 12. April 1945:

Das erste Mal wieder oben im Haus gesessen.

Freitag, 13. April 1945:

Kein deutscher Soldat mehr zu sehen. Am Abend gegen 9 Uhr zieht ein amerikanischer Stoßtrupp durchs Dorf.

Samstag, 14. April 1945:

Um 4 Uhr auf Befehl der Amerikaner die Bäume von der Chaussee* gezogen. Das erste Mal wieder im Zimmer Kaffee getrunken.

Samstag, 14. April 1945:

Die Amerikaner befehlen: Weiße Flaggen heraus in den Häusern, in denen keine deutschen Soldaten mehr sind. Die Deutschen befehlen: wieder herunter! Alles ist wieder in Aufregung, weil in den Gräben wieder deutsche Soldaten liegen.

Montag, 16. April 1945:

In Ratingen sprengen unsere Soldaten Munition und Geschütze. Am Abend einige Granatwerfereinschläge in Bockum.

Dienstag, 17. April 1945:

In der Nacht ist Onkel Ferdinand von einer Russenbande ums Leben gebracht worden. Die Nacht war sehr unruhig.

Donnerstag, 19. April 1945:

Mittags um 12 Uhr einige Glockenschläge. Alle Bewohner haben sich auf der Straße versammelt. Die Amerikaner geben die ersten Bekanntmachungen. Alle Waffen müssen abgeliefert werden. Ausgehzeit von 6 bis halb acht. Keiner darf über den Rhein.

Sonntag, 22. April 1945:

Um halb sieben feierlicher Gottesdienst erstmalig wieder in der Kirche.

Dienstag, 24. April 1945:

Ich war in Kaiserswerth. Ohne Passierschein kann man nach Düsseldorf!

Mittwoch, 25. April 1945:

Mine Schmidt holt die Milch hier ab und bringt sie wieder ins Dorf.

Sonntag, 06. Mai 1945:

Neun kleine Schweine geboren!

*Heute: Duisburger Landstraße, B 8.